Grenzen überwinden – Brücken bauen

25 Jahre deutsche Einheit

Auf dem Schrenzer bei Butzbach: Drei Bäume für Deutschlands Einheit – Ein „wachsendes Denkmal“

Im Jahr 2015 jährt sich die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zum 25. Mal. Nach einer Idee von Werner Erhardt soll in jeder deutschen Gemeinde ein Baumdenkmal gepflanzt werden – bestehend aus Buche, Kiefer und Eiche. – Auch die Friedrich-Ludwig-Weidig-Stadt Butzbach beteiligt sich aktiv an der Umsetzung dieser Idee, die von der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald und auch dem Deutschen Städtetag unterstützt wird.

Die Schirmherrschaft hat Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel übernommen und bereits im Jahr 2014 Bäume für die Einheit Deutschlands in Bonn gepflanzt.
Mit der Pflanzung der drei Bäume auf dem Schrenzer bei Butzbach am 8. November 2014 ist ein „wachsender Gedenkort für Deutschlands Einheit“ geschaffen worden. Er soll besonders auch an den Neubeginn der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten und den die begonnene vielfältige politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche demokratische Entwicklung Deutschlands in einem friedlichen Europa, die vor 25 Jahren ihren Anfang nahm, erinnern. Die Buche im Westen unseres Freiheitsplatzes steht dabei für die Bundesrepublik Deutschland, die Kiefer im Osten für die ehemalige Deutsche Demokratische Republik, die Eiche in der Mitte steht für das wiedervereinigte Deutschland.

1989 haben Hunderttausende mutiger Menschen in der DDR in einer unblutigen, friedlichen Revolution die SED-Diktatur überwunden und die Öffnung der Mauer erzwungen. Sie schufen so die Voraussetzung, dass Deutschland seine Einheit in Frieden und Freiheit wiedererlangen konnte.

Das Zusammenwachsen unseres viereinhalb Jahrzehnte durch die Todesgrenze des „Eisernen Vorhangs“ geteilten Landes, der allmählich spürbare Fortschritt und zunehmende Wohlstand im ganzen Land, dessen Wachsen und Gedeihen soll von den drei neugepflanzten Bäumen symbolisiert werden, deren Kronen im Laufe der Jahre zu einer Einheit miteinander verschmelzen werden. Die im Oktober 2015 neu aufgestellten sechzehn Natursteinquader symbolisieren die einzelnen Bundesländer, die eine der Säulen der neuen Bundesrepublik darstellen.

Der Schrenzer bei Butzbach – Denkmal der deutschen Einheit

Der Ort für das Butzbacher „wachsende Denkmal der deutschen Einheit“ ist ganz bewusst gewählt.  Die große freie Lichtung oberhalb der Stadt Butzbach hat über die Jahrtausende hinweg als naher Hausberg Butzbachs auch in den Geschicken unserer Stadt immer wieder eine besondere Rolle gespielt.

Limes, Weltkulturerbedenkmal, direkt am Schrenzer

Vor etwa 1.900 Jahren besetzten die Römer einen Teil Germaniens und kamen bis in die Wetterau. Sie nahmen diese fruchtbare Landschaft mit in ihr Reichsgebiet auf, in die Provinz Obergermanien, auf. Sie erbauten Militärkasernen, ließen sich aber auch als Zivilisten in der Region nieder und schützten die Wetterau durch den Bau einer immer stärker militärisch und polizeilich überwachten Grenzlinie, den in Deutschland allein etwa 500 km langen Limes. Wall, Graben, rekonstruierte Palisade und wiederaufgebauter kleiner Wachtturm erinnern auf dem Schrenzer an diese Zeit, in der hier oben die Vertreter der antiken Mittelmeerkultur und jenseits des Waldes Ackerbauern und Viehzüchter der eher agrarisch ausgerichteten keltischen und germanischen Kultur zusammentrafen. Für einige Zeit war hier auch ein wichtiger über den Limes führender Straßenübergang, der den vielfältigen Austausch erlaubte. Hier war also eine Brücke zwischen Völkern und Kulturen. – Der Name Schrenzer geht auf ein althochdeutsches Wort für „Schranke“ und „Grenze“ zurück, möglicherweise eben auf diese durch den Limes festgelegte Grenze, die bis heute als im Wald deutlich erkennbares Unesco-Weltkulturerbe ins Auge fällt.
Der Schrenzer, angeblich ein altgermanisches Heiligtum

In der Nazizeit (1933-1945) wurde die Geschichte des Schrenzers verklärt, in dem behauptet wurde, die Germanen hätten hier ihre Volksversammlungen abgehalten und zu Gericht gesessen, ja der Schrenzer sei der „heilige Berg“ der Germanen gewesen. Dies ist jedoch überhaupt nicht nachweisbar und ist eine jener vielen mystischen Verklärungen im Germanenwahn der Zeit des so genannten Dritten Reichs.

Ausflugsort für Angehörige gehobener Stände – und für Schafe

Bereits im 17. Jahrhundert war der schöne, liebliche Ort mit dem wunderbaren Blick über die nördliche Wetterau offenbar bereits ein beliebter Platz, um auszuruhen, zumindest für diejenigen Herrschaften, die sich dies aufgrund ihres gehobenen Standes erlauben konnten. Wir wissen aus einem Gemälde von 1615 von einem großen Picknick bei einer Partie des Landgrafen von Butzbach und seines Gefolges auf dem Schrenzer, wo aber auch gleichzeitig die Schafe der Butzbacher Viehzüchter weideten. – Schafherden auf dem Schrenzer waren für Jahrhunderte – bis vor wenigen Jahren – in der milderen Jahreszeit ein gewohntes Bild.
Hohe Eichen umsäumten auch im 19. Jahrhundert diesen sonnigen Platz, auf dem die Stadt Butzbach über Jahrzehnte Kirschenbäume pflanzte, diese pflegen ließ und die Ernte versteigerte.

Politische Veranstaltungen im 19. Jahrhundert

Als Stätte einer politischen Großkundgebung für die Freiheit ist der Schrenzer zuerst Mitte Oktober 1814 bekannt, als hier ein großes Freudenfeuer am ersten Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig entzündet wurde. Gefeiert wurde die Befreiung Deutschlands vom Diktator Napoleon.
Der Schrenzer war aber vor allem auch der Lieblings-Aufenthaltsort von Dr. Friedrich Ludwig Weidig (1791-1837), einem der wichtigen Kämpfer für ein einiges, freies deutsches Vaterland in der Zeit des sog. „Vormärz“. Als Vormärz werden die Jahre der Unfreiheit und Unterdrückung vor dem März 1848 bezeichnet, vor der Revolution von 1848/1849 – besonders bekannt durch das Paulskirchen-Parlament, das erste für ganz Deutschland frei gewählte demokratische Parlament.

Friedrich Ludwig Weidig (1791-1837),
Kämpfer für die Freiheit, aufrechter Demokrat

Weidig war 1803 mit seiner Familie nach Butzbach gekommen und lebte hier bis zu seiner Zwangsversetzung 1834. 22 Jahre lang wirkte er als vorbildlicher Lehrer in Butzbach, das er als Heimatstadt ansah, die er sehr liebte. Nach Abschluss seines Theologiestudiums in Gießen war er seit 1812 Konrektor der Butzbacher Knabenschule. Von 1827 bis zu seiner Zwangsversetzung als Pfarrer in den Vogelsberg (1834) wirkte er als deren Rektor. Dr. Weidig baute in kurzer Zeit ein vorbildliches, auch im Ausland hoch gelobtes Schulwesen auf und wirkte, weit über seine Heimatstadt Butzbach bekannt, allseits und unentwegt als „Kulturmotor“. Noch bekannter wurde er aufgrund seiner politischen Tätigkeit, als er in den Jahren ab 1815 auch für das Großherzogtum Hessen eine Verfassung forderte. Er war immer ein unerbittlicher Verfechter von Freiheit, Recht und Demokratie. Bereits früh war Weidig nicht nur mit den politischen Verhältnissen in Hessen selbst unzufrieden, sondern auch mit dem nur lockeren Staatenbund des Deutschen Bundes, die weit von der Idee eines wiedererstarkenden Deutschland war. Weidig sehnte sich wie viele kritische Zeitgenossen auch nach einem geeinten deutschen Staat. Dafür setzte er sich immer wieder ein, weshalb er z.B. auch im Jahr 1833 die Organisation des bekannten „Hambacher Nationalfest“, das die Wieder-Vereinigung ganz Deutschlands in Form einer Republik zum Ziel hatte, mit vorbereitete. Die durch die zunehmende Pressezensur immer geringer werdenden Möglichkeiten, in diesem Deutschland offen freiheitliche, republikanische Überzeugungen zu äußern, ließen auch Weidig 1833 dazu übergehen, mit geheim gedruckten Flugschriften auf die Mißstände der Zeit hinzuweisen und diese anzuprangern.

Weidig, der seit Jahrzehnten wirkende Anführer der oppositionellen Bewegung in Oberhessen, kam dadurch im Jahr 1834 mit dem jungen Medizin-Studenten Georg Büchner zusammen. Büchner hatte in Frankreich studiert und war von den Idealen der Französischen Revolution begeistert. Büchner – inzwischen ein zu Weltruhm gelangter Dichter – verfasste eine sprachgewaltige, aufrüttelnde politische Kampfschrift gegen Tyrannei und Knechtschaft. Weidig überarbeitete das Manuskript Büchners. Er gab ihr den Titel „Der hessische Landbote“, inzwischen weltweit bekannt. Der politische Sprengstoff, den diese Flugschrift beinhaltet – sie beginnt mit der Parole der Französischen Revolution „Friede den Hütten! Krieg den Pallästen!“, ist bis heute im scharfen Textstil erhalten! – Der hessische Landbote wurde von Weidig und seinen Schülern und Freunden in ganz Hessen verbreitet, das Projekt aber bereits bei Erscheinen verraten. Büchner floh ins freiheitlich gesinnte Frankreich, aber Weidig blieb an seinem neuen Wirkungsort in Obergleen, bis er verhaftet wurde.

Weidig starb, von einem unmenschlich wie systematisch vorgehenden Untersuchungsrichter in die Enge getrieben, nach fast zweijähriger Untersuchungshaft im Darmstädter Arresthaus am 23. Febr. 1837, vier Tage nach dem Tod des jungen Dozenten Dr. Georg Büchner in Zürich. Weidig verstarb an den von eigener Hand zugeführten Wunden, durch Aufschneiden der Pulsadern. – Allgemein wurde von den „Regime-Gegnern“ vermutet, dass Weidig im Gefängnis ermordet worden sei. – Er ist auf alle Fälle von einem sadistischen Untersuchungsrichter systematisch in den Suizid getrieben worden, und als der Verblutende in seiner Gefängsniszelle vom Personal aufgefunden wurde, hat es Stunden gedauert, bis der Anstaltsarzt zu ihm vorgelassen wurde. – Weidig wollte wohl wenigstens als Märtyrer dem Kampf für Freiheit und Demokratie (im Sinne der frühliberalen wie frühen sozialistischen Bewegung) dienen. Im Großherzogtum Hessen durfte bis zum März 1848 der Name Weidig nicht (öffentlich) in den Mund genommen werden, da sonst starke polizeiliche Repressionen zu erwarten waren.
Hier auf dem Schrenzer hatte Weidig um 1814 das „Schülerexerzieren“ eingeführt. Er richtete zur gleichen Zeit hier den ersten Turnplatz im heutigen Hessen ein, um aus den jungen Schülern auch körperlich tüchtige, starke Menschen zu machen, die auch für den Kampf für ein geeinigtes Deutschland vorbereitet waren.
Der junge Lehrer traf sich hier auch oftmals nach dem Unterricht mit seinen Schülern und politischen Freunden und erzählte hier besonders gern und sehr plastisch aus der Geschichte der Germanen und der Deutschen, er rezitierte Gedichte und sang mit Schülern und Freunden Freiheitslieder. So formierte sich gerade an dieser Stelle um den großen Demokraten Weidig die „Butzbacher Freiheitsbewegung“.

Wiederaufkeimen der Freiheitsbewegung 1848/1849

Büchner und Weidig schließen ihre revolutionäre Flugschrift Der hessische Landbote mit einem alttestamentarischen Bibelzitat:
Wann der Herr auch seine Zeichen gibt durch die Männer, durch welche er die Völker aus der Dienstbarkeit zur Freiheit führt, dann erhebet euch und der ganz Leib wird mit euch aufstehen.
Ihr bücktet euch lange Jahre in den Dornäckern der Knechtschaft, dann schwitzt ihr einen Sommer im Weinberge der Freiheit, und werdet frei sein bis ins tausendste Glied.
Ihr wühltet ein langes Leben die Erde auf, dann wühlt ihr euren Tyrannen ein Grab. Ihr bautet die Zwingburgen, dann stürzt ihr sie, und bauet der Freiheit Haus. Dann könnt ihr eure Kinder frei taufen mit dem Wasser des Lebens. und bis der Herr euch ruft durch seine Boten und Zeichen, wachet und rüstet euch im Geiste und betet ihr selbst und lehrt eure Kinder beten: „Herr, zerbrich den Stecken unserer Treiber und laß dein Reich zu uns kommen, das Reich der Gerechtigkeit. Amen.“
Weidigs Schüler und Mitarbeiter glaubten an diese Prophezeiung, dass all die erbärmliche und menschenverachtende Sklavenarbeit und alle Mühen in Schweiß und Dreck („im Weinberg“) an jenem Tage belohnt werden würden, an dem der Aufstand des Volkes beginne und dann der „Weinberg der Freiheit“ ausgerufen werde.
Die Weidig-Anhänger deuteten in großer Euphorie die Zeichen der Freiheit im März 1848 als den von Weidig und Büchner prophezeiten „Weinberg der Freiheit“. Nach langen Jahren der Knechtschaft war diese fast grenzenlose Freiheit in greifbare Nähe gerückt.

Der Schrenzer 1848/1849: Massenkundgebungen und Paraden, Ehrungen zum Gedenken an den großen „Märtyrer der Freiheit“ Weidig

Hier auf dem Schrenzer, elf Jahre nach dem schmachvollen Gefängnistod des Butzbacher Rektors, Pfarrers und Freiheitskämpfers Weidig, ihm ein Denkmal in Form eines Ehrenhains gesetzt: Die Bäume des Weidighains wurde mit dem Namenszug des „Märtyrers“, gepflanzt und unter starker Anteilnahme der Bevölkerung eingeweiht. Der v.a. aus Fichten und wenigen Eichen bestehende Weidighain wurde später nur stellenweise erneuert, und er war bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum noch erkennbar. Heute stehen wohl noch zwei Eichen des alten Weidighains.

1848/1849 war Butzbach eine der Hochburgen der parlamentarischen, republikanischen demokratischen Bewegung in Hessen. Die Großveranstaltungen, Gedenkfeiern, Reden und die Paraden der Schützenkompanie und Bürgerwehr fanden hier auf dem Schrenzer statt, der damals regelmäßig aus einem schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer bestand.

Republikanisches Denkmal (1928-1933), Weidigstein (seit 1937)

1928 wurde hier zur Erinnerung an den Vorkämpfer für Demokratie, Recht und Freiheit Weidig und für drei Politiker der Weimarer Demokratie das republikanische Denkmal geschaffen, das bereits im April 1933 von den Nazis gesprengt wurde. 1937, bei Eröffnung des „Weidig-Bergturnfestes“, wurde sozusagen als „Ersatz“ dafür ein Menhir mit der Aufschrift „Weidig“ zur Erinnerung an den großen Sohn der Stadt Butzbach, den „hessischen Turnvater“ (Begriff seit 1928 gebraucht) eingeweiht. Auf dem bis heute dort stehenden Weidigstein wurde 1967 eine Bronzeplatte mit einem Porträt ergänzend angebracht.

Weidig – Pionier in Demokratie, Kämpfer für die Einheit Deutschlands

Weidig hat zeitlebens für die Wiedervereinigung der nur los zusammengebundenen deutschen Staaten gekämpft, gehörte zweifelsohne zu den frühen Deutschen, die Grenzen überwinden wollten und „Brücken gebaut haben für die Idee eines 1848/1849 kurzzeitig angesteuerten geeinigten demokratischen Deutschlands. Weidig war einer der Wegbereiter des geeinten Deutschlands.
Einer langen Tradition folgend, soll sich dieser Platz deutscher Einheit in einem kontinuierlichen Prozess weiterentwickeln und von der Bevölkerung, den Schulen und Vereinen gleichermaßen angenommen werden. Schon jetzt ist das Denkmal ein lebendiger Ausdruck von Bürgersinn und Solidarität, denn alle Bäume wie die Pflanzung selbst, wurden durch Spenden aus der Bevölkerung, von Betrieben und Institutionen sowie Parteien, Vereinen und dem Vereinsring aus Butzbach und Umgebung ermöglicht.