Seit Kurzem steht im Butzbacher Stadtarchiv ein besonderes Schriftstück zur Verfügung. Es handelt sich um einen autobiographischen Text von Frau Dr. Marianne Kamp geb. Haidl, 1921-2016, die nach der Vertreibung aus dem heutigen Tschechien von 1946 bis 1950 in Fauerbach v. d. H. lebte.
Der Text gehört zu weiteren Aufzeichnungen, die Frau Kamp im Alter von 88 Jahren für ihre Nachfahren fertigte. Auf 35 Seiten beschreibt sie den Neuanfang in Fauerbach, wo sie gemeinsam mit ihrer Mutter und Schwester in einem großen Zimmer auf dem Hof einer Bauernfamilie lebte. Sie spricht von „mageren Jahren“, in denen der Alltag zunächst von Sorgen, Heimweh und Improvisation, aber auch von Zuversicht geprägt war.
Angefangen beim täglichen mühevollen Brennholz-Sammeln in den nahegelegenen Taunuswäldern, dem Zurechtkommen mit knappen Lebensmittelrationen, der erfindungsreichen Erweiterung des Speiseplans durch – teilweise illegales – Sammeln von Früchten, Pilzen und Kräutern in der Natur und dem Versuch, sich mit wenigem Mobiliar und Gegenständen des täglichen Bedarfs wohnlich einzurichten. Den Umgang zwischen „Altbürgern“ und „Neubürgern“ beschreibt Frau Kamp als Herausforderung für alle Beteiligten. Sie geht von etwa 300 Flüchtlingen und Vertriebenen aus, die in den ersten Nachkriegsjahren auf ca. 600 Alteingesessene in Fauerbach trafen. Die Bandbreite des Miteinanders reichte von Misstrauen und Ablehnung bis hin zu Offenheit und gegenseitiger Hilfe. Die Integration, beginnend mit der Eingewöhnung an die oberhessische Mundart, erfolgte Schritt für Schritt.
Frau Kamp und ihre Schwester, beide damals Mitte 20, legten Wert darauf, die einheimische Bevölkerung z. B. als Erntehelferinnen tatkräftig zu unterstützen, kümmerten sich aber auch um ihre Bildung und ihr berufliches Fortkommen. Die Schwester konnte in Marburg ihr Studium fortführen. Frau Kamp, die aus der alten Heimat eine Ausbildung samt Doktortitel mitbrachte, erlangte eine Anstellung als Lehrerin in der damaligen Schillerschule in Friedberg. Sie engagierte sich auch ehrenamtlich, hielt Kontakt zur Dorfverwaltung und zur Landratsbehörde, wurde zum „Flüchtlingskommissar“ in Fauerbach gewählt und baute sich mit der Zeit ein wertvolles Netzwerk auf. Etliche Anekdoten stechen in Frau Kamps Schilderungen hervor, z. B. der mit Hindernissen versehene Erwerb eines Damenfahrrades, das ihr ein großes „Stück Lebensqualität“ und Unabhängigkeit bescherte, die Durchführung eines bunten Abends unter dem Motto „Flüchtlinge singen und spielen: Wie’s daheim war“, um der Dorfbevölkerung auf unterhaltsame Weise Wissenswertes über Herkunft und Bräuche der „Neubürger“ zu vermitteln, ebenso die Mitorganisation der möglicherweise ersten Faschingsfeier im damals evangelisch geprägten Fauerbach, die trotz anfänglicher Skepsis von vielen Einheimischen mit Begeisterung aufgenommen wurde, im darauf folgenden Sonntagsgottesdienst jedoch vom Pfarrer aufs Schärfste verurteilt wurde. Frau Kamp resümiert an einer Stelle diese herausfordernden Jahre so: „Jeder packte das Leben auf seine Art an, verwirklichte seine Ziele – und es war gut so.“
Martin Kamp, der Sohn von Frau Kamp, hat den besonderen Wert des persönlichen Dokuments erkannt und es dem Stadtarchiv Butzbach überlassen, damit es der Öffentlichkeit und allgemeinen Forschung zugänglich gemacht werden kann. Herrn Kamp gilt daher ein großer Dank von Seiten der Stadt Butzbach. Den vollständigen Erlebnisbericht finden Sie auf der Seite www.stadtarchiv-butzbach.de unter der Signatur 06.17.01.04.-0001.

