Butzbach als Ort der Demokratiegeschichte

Butzbach ist der Mittelpunkt der nördlichen Wetterau, jener historisch bedeutenden Landschaft zwischen Gießen an der Lahn und Frankfurt am Main. Heute hat die Stadt Butzbach (mit insgesamt 14 Stadtteilen) insgesamt etwa 25.000 Einwohner. Ganz besondere Bedeutung erlangt die geschichtsträchtige Stadt als Ort der europäischen Demokratiegeschichte, als Stätte der frühen Demokratiebewegung. Über Jahrzehnte war Butzbach in der Zeit des sog. „Vormärz“, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Ausgangs- und Kulminationspunkt zahlreicher politischer, oppositioneller Bestrebungen, die in dem langjährigen Lehrer, Turner und Freiheitskämpfer Dr. Friedrich Ludwig Weidig (1791-1837) ihr geistiges und organisatorisches Haupt hatten.

Scheinbare biedermeierliche Idylle: Marktplatz von Butzbach 1827/1831, nach der kolorierten Federzeichnung des Weidigschülers Paul Wilhelm Zeuner.

Weidig selbst, seit 1803 in Butzbach aufgewachsen und nach dem Theologiestudium von 1812 bis zur zwangsweisen Versetzung als Pfarrer in den Vogelsberg (im Herbst 1834) als kritischer Geist Konrektor, dann Rektor der Butzbacher Knabenschule, war neben seinen zahlreichen politischen Tätigkeiten sozusagen auch der „Kulturmotor“ schlechthin in dem kleinen, im Großherzogtum Hessen gelegenen  Amtsstädtchen, das damals etwa 2.400 Einwohner aufwies.

Weidig verstand es, seine Schüler für seine politischen, freiheitlichen Ideen zu begeistern, sie später vor allem für die Verbreitung der von ihm verfassten oder mitverfassten, wegen der drückenden Pressezensur geheim erscheinenden Flugschriften einzusetzen.

Turnen wurde über Jahrzehnte polizeilich verfolgt

Dr. Friedrich Ludwig Weidig (1791-1837), Kohlelithographie ca. 1848 (Museum Butzbach)

Als Pädagoge hat Weidig um 1814 den ersten Turnplatz in Hessen eingerichtet und die Jugend im Turnen erzogen, sie damit auch politisch geschult. Turnen gehörte mit zum politischen Programm des von den Ideen der Befreiungskriege begeisterten deutschen Patrioten Weidig, um ein Wiedererstarken des deutschen Volkes durch eine starke, wehrhafte Jugend zu erreichen. Turner waren den Behörden suspekt und wurden noch über Jahrzehnte hinweg polizeilich verfolgt.

Schon als junger Mann forderte Weidig die Ratifizierung einer Verfassung für das Großherzogtum Hessen (1817/1820) ein. Weidig war auch Verfasser Hunderter systemkritischer Zeitungsartikel in der „Hanauer Zeitung“ oder in Wirths „Tribüne“ (i.d.R. anonym). Er gehörte aufgrund umfassender Verbindungen zu den Mit-Vorbereitern des Hambacher Festes (1832) an dem er nicht selbst teilnehmen konnte. Weidig war zunächst an den Vorbereitung jener revolutionären Erhebung beteiligt, die 1833 als „Frankfurter Wachensturm“ in die Geschichte einging, lehnte aber schließlich den Komplott . Deshalb wurde er auch für sieben Wochen in Untersuchungshaft genommen (Begründung: Umgang mit Republikanern), schließlich entlassen.

Weidig war „der geborene Netzwerker“

Weidig war (1833-1834) Herausgeber und Autor mehrerer Nummern der verbotenen Flugschrift „Leuchter und Beleuchter oder der Hessen Nothwehr“, war Herausgeber und Mitverfasser – zusammen mit Georg Büchner – der heute berühmten revolutionären Flugschrift der Hessische Landbote (in zwei Auflagen Juli und Nov. 1834). Die geheimen Flugschriften wurden im wesentlichen von den Schülern und Freunden Weidigs aus Butzbach und Umgebung von der Druckerei abgeholt, an verschiedenen Depots verteilt, von dort aus verschickt oder nachts verteilt.

Museum der Stadt Butzbach, Ausstellungsstücke der Abteilung „Friedrich Ludwig Weidig und seine Zeit“

Weidig war „der geborene Netzwerker“. Er hatte im Großherzogtum Hessen, in Kurhessen und den benachbarten Staaten überall zuverlässige Freunde, Bekannte und Mitarbeiter, die seine vielfältigen geheimen Unternehmungen und die seines Mitarbeiterkreises unterstützten, auch die Flugschriften mit vorbereiteten, in Umschläge verpackten oder sie weiter im Land verteilten. Später boten sie sich auch als Fluchthelfer an. Etliche an den Flugschriftenprojekten beteiligte Aktivisten wurden durch Verrat oder polizeiliche Ermittlungen zur Fahndung ausgeschrieben und mussten versteckt bzw. weitergeleitet werden. – Rektor Dr. Weidig wurde im Sommer 1834, gerade als die erste Auflage des im Untergrund gedruckten Hessischen Landboten Erste Ausgabe erschienen war, als Pfarrer in ein kleines Dörfchen im verkehrsfernen Vogelsberg (Obergleen bei Alsfeld) strafversetzt. Indessen intensivierte sich die polizeiliche Suche nach den Urhebern und Publikationshelfern Im April 1835 wurde er dort verhaftet und über Friedberg im Juni 1835 in das neue Arresthaus nach Darmstadt transportiert. Weidig starb nach unbarmherzigen Vernehmungen, subtilen psychischen und körperlichen Folterungen am 23. Februar 1837 im Arresthaus in Darmstadt durch Selbstmord (!). Der Skandal war da und wirkte weit über die Darmstädter Landesgrenzen hinaus! Die politische Opposition hatte einen Märtyrer. – Weidig starb im Darmstädter Kerker auch als Opfer der geheimen Kabinettsjustiz. Die Öffentlichkeit des gerichtlichen Untersuchungsverfahrens war eine der wichtigen Forderungen der Revolutionäre von 1848/1849, wobei der Tod Weidigs den Präzedenzfall markierte, aufgrund dessen die Paulskirchen-Gesetzgebung diese Forderung zum Gesetz erhob, damit sich Ähnliches nie mehr wiederholen sollte.

Insgesamt waren 14 Weidig-Schüler wegen Beteiligung an revolutionären Bestrebungen im Darmstädter Arresthaus eingesperrt und wussten nicht, was aus ihnen wird. Die Verurteilung zu oft langjährigen Zuchthausstrafen erfolgte 1838, wurde aber durch eine Amnestie 1840 aufgehoben.

Das ehem. Rektoratshaus, sog. „Weidighaus“, in dem Konrektor Weidig unterrichtete und zeitweise auch wohnte.

Weidigs Wirkung strahlte noch weit über seinen Tod hinaus. Ein großer Butzbacher Schülerkreis, Turnverein, Gesangverein und Geschichtsverein (u. a.) haben die Erinnerung an ihn in der Stadt, die er als seine Heimatstadt liebte, wach gehalten. Heute gibt es im Museum und Stadtarchiv Butzbach zahlreiche Anknüpfungspunkte, um Weidig und seiner Zeit näher zu kommen. Hier ist vor allem die 2016 eröffnete Abteilung des Museums der Stadt Butzbach („Friedrich Ludwig und seine Zeit“) sowie im gleichen Haus (Stadtarchiv) die 1987 gegründete wissenschaftliche Fachbibliothek und Dokumentationsstätte des „Weidig-Forschungsarchivs“ zu nennen. Spezielle Stadtführungen mit dem Spezialthema „Weidig“ oder „Weidig und seine Schüler“ werden seit vielen Jahren von der Stadt Butzbach veranstaltet. Auch eine Straßentheatergruppe nimmt sich immer wieder des Themas an und verbindet Spielszenen und Lesungen mit einer Stadtführung. Seit dem Jahr 2011 führt Butzbach – nach Verleihung durch das Hessische Ministerium des Innern – den Ehrentitel „Friedrich Ludwig-Weidig-Stadt“.

Der Demokrat Weidig kämpfte für die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte der Bürger, gegen jede Art von Unterdrückung und für die Selbstbestimmung der Völker. Sein politisches Ziel war zunächst die Wiedereinung der zahlreichen, nur locker verbundenen Einzelstaaten Deutschlands, das in einem freien und friedlichen Europa seinen angemessenen Platz unter den europäischen Nachbarn hätte finden sollen.