21.11.2023

Zweites Büchner-Weidig-Symposium: Ist die Demokratie in Gefahr?

Mit der Frage „Ist die Demokratie in Gefahr?“ beschäftigte sich auch das zweite Büchner-Weidig-Symposium in Butzbach und Riedstadt, das BüchnerFindetStatt in Kooperation mit der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung und dem „Demokratikum“ der Stadt Butzbach veranstaltete.

In Butzbach begrüßte Bürgermeister Merle die gut fünfzig Gäste mit einem Dank an Veranstalter und Vortragende. Er hoffe, die erfolgreiche Zusammenarbeit fortzusetzen und sehe interessiert den Planungen für das kommende Jahr entgegen. Die Bedeutung des gerade vergangenen 9. November, als eines der zentralen Daten deutscher Geschichte, betonte er mit einem besonderen Willkommen für den Gast aus Israel, Prof. Dr. Gad Arnsberg aus Tel Aviv, der buchstäblich unter der aktuellen Bedrohungslage nach Deutschland gekommen war.

v.l.n.r.: Dr. Gerd Koenen, Prof. Dr. Gad Arnsberg, Peter Brunner (Museumsleiter Goddelau) Dr. Antje Schrupp, Michael Merle (Bürgermeister Stadt Butzbach) Foto: Ludmilla Naumann

Für BüchnerFindetStatt begrüßte der Goddelauer Museumsleiter Peter Brunner mit dem Büchner‘schen „Bonjour Citoyen“. Er leitete das Symposium mit Zitaten des jüdischen Paulskirchen-Abgeordneten Gabriel Riesser ein, der dort mit einer mitreißenden Rede die Gleichberechtigung der Juden gefordert hatte. Brunner betonte die Aktualität der Beschäftigung mit Demokratiegeschichte: „Was wäre eine bessere Reaktion auf terroristische Bedrohung als die Vergewisserung über Gesellschaftsformen, deren ständiges Ziel die Überwindung von Terror und die Verteidigung freiheitlichen Lebens in jeder Beziehung ist?“.

Gad Arnsberg fasste Erkenntnisse seines Forscherlebens zur frühen deutschen Demokratiegeschichte zusammen: In der Auseinandersetzung mit der französischen Revolution entsteht eine europäische Bewegung zur Überwindung der Aristokratie und der Errichtung von „Volksherrschaften“. Die Vorstellungen der politischen Akteure sind dabei zunächst höchst unterschiedlich und schwanken zwischen schlichter Befreiung von Unterdrückung bis hin zu ausgeklügelten Vorstellungen von Demokratie und Regierung. Der Kreis der Verschwörer um Büchner und Weidig, die mit dem Hessischen Landboten in die Debatte eingriffen, ist dafür ein gutes Beispiel. Die Ideen eines Juristen wie Jordan wichen weit von denen Büchners ab, gemeinsam war ihnen aber der Wunsch nach Befreiung von den Fesseln der Aristokratie. Auch in der württembergischen Militärverschwörung finden sich neben urdemokratischen Überlegungen putschistische und diktatorische Aspekte. Die Abgeordneten der Paulskirche waren in ihren Vorstellungen äußerst heterogen und mehrheitlich konstitutionelle Monarchisten, keine radikaldemokratischen Umstürzler. Dennoch und trotz des scheußlichen Scheiterns ist das Erbe der Paulskirche ein Verfassungsentwurf, auf den sich jeder neue Versuch der Demokratisierung in Deutschland beziehen konnte und tatsächlich bezog.

Einen sehr besonderen und kaum bekannten Aspekt demokratischer Geschichte stellte Dr. Antje Schrupp vor. Die amerikanische Präsidentschaftskandidatin von 1872, Victoria Woodhull. Die Schilderung des abenteuerlichen Lebens dieser Amerikanerin aus den untersten Gesellschaftsschichten scheint unglaublich. Als Spiritistin und Prostituierte, als Börsenbrokerin, Zeitungsherausgeberin und (vorübergehend) schwerreiche Geschäftspartnerin des Multimillionärs Vanderbilt zeigt sie das Vexierbild eines Amerikas, das in der Entwicklung seiner demokratischen Struktur bereits den schwarzen Männern, aber immer noch nicht den Frauen das Wahlrecht eingeräumt hatte. Woodhull stellte sich auf den Standpunkt, dass die amerikanische Verfassung „allen Menschen“ und nicht nur „allen Männern“ gleiche Rechte einräume und hätte möglicherweise tatsächlich zur Wahl gestanden, hätte sie nicht eine Pressekampagne diskreditiert und sogar – während der Präsidentschaftswahl – ins Gefängnis gebracht. Die Bedeutung dieser Geschichte für uns und unseren Umgang mit Demokratie erläuterte Dr. Schrupp mit Hinweisen auf die heute noch wirksame Diskriminierung gesellschaftlicher Herkunft und die zerstörende Kraft öffentlicher Verleumdung. Eine Frau mit so „obskurer“ Vergangenheit wie Victoria Woodhull hätte sicher auch heut noch trotz Intelligenz und Kompetenz kaum ein Chance auf eine politische Karriere.

Bürgermeister Michael Merle bei der Begrüßung der Gäste und Referenten
Foto: Ludmilla Naumann

Dr. Gerd Koenen hat sich in seiner politischen und historischen Forschung mit vielen Aspekten politischer Machtergreifung auseinandergesetzt. Dass ihm „Demokratie als schlimmste Form von Regierung“ erscheint, schränkt er mit Churchill durch die Ergänzung ein „mit Ausnahme aller anderen“. In seinem Beitrag ging es ihn besonders um die jeweiligen Vorgeschichten der „Machtergreifungen“. Wie Louis Napoleon zum Bürgerkönig gewählt werden konnte, sich Bismarck mit dem Coup allgemeine (Männer-)Wahlen zuzulassen, die Duldung der Linken erhielt, wie die winzige Minderheit der Bolschewiken in Russland die gerade gewonnenen Errungenschaften der vielleicht fortschrittlichsten Verfassung ihrer Zeit hinwegfegten – all das Aspekte unserer Demokratiegeschichte, die er als schließlich unglaublich erfolgreich, stets wieder neu erstehend, überraschend stabil und dauerhaft beschrieb. Den Zusammentritt der Vereinten Nationen nach zwei verheerenden Kriegen, von weit über einhundert verfassungsmäßig demokratisch verfassten Staaten und die Verabschiedung allgemeiner Menschenrechte schilderte er als einen epochalen Meilenstein der Entwicklung menschlicher Gemeinschaft auf der Welt. Seine Gewissheit, dass trotz aller Rückschläge und Niederlagen „Demokratie“ als die am wenigsten schlimme Form von Regierung Bestand haben werde, will er nicht als Optimismus, sondern als Erkenntnis des Historikers verstanden wissen.

In der abschließenden Diskussion äußerten die Gäste mit Rückfragen und eigenen Beiträgen das Interesse an der Weiterführung des Konzeptes der Symposien. In mehreren Beiträgen dankten sie dafür, dass die drei Vorträge sehr dazu beigetragen hätten, gerade mit sehr unterschiedlichen Schwerpunkten und Aspekten die Komplexität des Themas zu beleuchten und seine aktuelle Bedeutung zu erläutern. Peter Brunner versicherte, bereits an einer Fortführung zu arbeiten. Er dankte dem Museum für die Gastfreundschaft, dem Demokratikum für die hilfreiche Kooperation und Bürgermeister Merle persönlich für seine Unterstützung. Dieser überreichte den Vortragenden zur Erinnerung einen demokratisch-süßen Gruß aus Butzbach und versicherte, auch in Zukunft stehe Butzbach als Partner zur Verfügung.

Das Land Hessen fördert das „Demokratikum“ in Butzbach

Das Land Hessen fördert im Jahr 2023 ein „Demokratikum“ in Butzbach über das Förderprogramm „Zukunft Innenstadt“. Das „Reallabor Demokratikum“ macht das Thema Demokratie in der Innenstadt für alle erlebbar. Demokratiegeschichte rund um Friedrich Ludwig Weidig, aktuelle Fragen zur Demokratie aber auch demokratische Prinzipien in der Stadtentwicklung werden aufgegriffen und in verschiedenen Angeboten durch das gesamte Jahr des Butzbacher Stadtjubiläums sichtbar gemacht. Das Reallabor ist ein erster Schritt auf dem Weg ein dauerhaftes, festes Demokratikum in Butzbach zu entwickeln. Es fügt sich in die 1250-Jahr-Feier der Stadt Butzbach ein.

Prof. Dr. Gad Arnsberg: Hochschullehrer für Geschichte und Leiter der Internationalen Abteilung am Beit Berl College, hat Volkswirtschaft, Geschichte und Politik studiert und promovierte 1986.

Dr. Antje Schrupp: Geboren 1964 in Weilburg, studierte Politikwissenschaft, ev. Theologie und Philosophie, Volontariat beim Ev. Pressedienst, arbeitet als Redakteurin, Publizistin und Referentin. Ihre Schwerpunktthemen sind weibliche politische Ideengeschichte, Geschichte des Sozialismus sowie religiöse Weltanschauungen.

Dr. Gerd Koenen: 1966-1972 Studium der Geschichte und Politikwissenschaften; Dissertation zum Thema „Rom oder Moskau? Deutschland, der Westen und die Revolutionierung Russlands; 2007 „Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung“ (zusammen mit Mikhail Ryklin) für das Buch „Der Russland-Komplex“.